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Mein Zimmer
Was ich im Lauf der Zeiten liebgewann,
das hängt verstreut an meinen Zimmerwänden:
Tolstoi und Goethe, Lincoln und Lenin,
Ein Bild von Marx, von Masaryk und Thomas Mann,
drei Aquarelle (Wiesen, Berge, Wolken drüberhin)
dazwischen, werktäglich und ohne Drum und Dran
und dennoch wie das Krönende schlechthin,
hängt meine alte Mutter, und mir vollenden
sich gleichsam nach geheimnisvollem Sinn
Zusammenhänge, die mir erst nach schweren Jahren
und wie durch einen Zufall offenbar geworden sind.-
Denn manchmal, wenn ich grübelnd oder sehr zerfahren
in meinem Zimmer auf und nieder gehe und zerquält
nach Worten ringe, eine klare Ordnung im Geschehen suche,
wird das, was ich bisher für einen Wandschmuck hielt,
zu einer in sich ruhenden und beispielhaften Welt,
aus der mein Herz den größten Trost gewinnt.-
Mein Blick fällt unverhofft auf so ein Bild,
und langsam rührt mich eines Menschen Leben an,
in seinem Glück, in seiner Lust und seinem Fluche,
und wenn es sich zutiefst entblättert und entschält,
erglänzt es als ein Gleichnis aller Menschenmühen.-
Doch nie erschöpft es sich in einem Werk, in einem Buche,
weil es zu vielgesichtig ist und unaussprechlich bleibt.
Es mag wohl sein, daß manchmal einer es erfühlt
und überwältigt zittert wie in innerstem Erglühen,
wenn er sein Denken bis zum Grund der Gründe treibt,
wie ich in manchem Anflug starker Freudigkeit.
Dann wird es mir erst ganz bewußt: Nicht hohle Schemen
und bildgewordne Zeugen der Unsterblichkeit
sind all die Männer, die von meinen Wänden schauen.
Ihr tiefstes Wesen ist dem Leben einverleibt
wie jede Wiese, jeder Berg, die Wolken hoch im Blauen.
Und auferlegt ist jedem jene schwere Fruchtbarkeit
der Mutter, die nur geben kann und niemals nehmen
und sich erfüllt als das Verschenkende in jeder Zeit.-
In solchen Augenblicken will mir manchmal scheinen,
als sei in meinem Zimmer etwas von dem reinen
Zusammenklang von Menschensein und hoher Ewigkeit.
© Paul List Verlag
Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München
Jahrbuch der Oskar Maria Graf-Gesellschaft e .V. 1996, Ausgewählte Gedichte“ , S. 54 ff.